Inhalt
Aus ihrem unerschöpflichen Repertoire an Begebenheiten, welche die mystische Seherin Tejal aufgrund ihrer Berufung erblickt, durchlebt und oftmals unfreiwillig wahrhaftig wird, ist auch diese grausige Episode ein Zeugnis des brutalen Kreislauf von Leben und Tod. Die Entstehung einer Rüstung, die aus Knochen und Lebenskraft erschaffen wurde, zu einem furchtbaren Preis, der dem widerspricht, was die Lehren von Rathma, dem Kodex der Totenbeschwörer, eigentlich aussagen.

Auf dem Weg zum Sanktum der Lehren am Rande der Sümpfe von Scosglen befand sich die Reisende Iolaynah. Sie kam hierher, weil sie eigentlich ihre kleine Schwester Lorameere besuchen wollte, die vor vielen Monaten aufgebrochen war, um in dieser Institution zu studieren. Beide waren Vollwaisen und waren vor einigen Jahren gezwungen ihren eigenen Vater zu beerdigen.
War die unwegsame Straße bereits beschwerlich, so bot der Anblick des Sanktums selbst ebenfalls kaum ein besseres Bild. Wurzeln durchdrangen das Gemäuer, brachen die Wände und den Boden an vielen Stellen auf. Iolaynah hatte Mühe ihr Gleichgewicht zu halten und wählte ihre Schritte mit Bedacht.
Vor dem Tor angekommen musste sie jedoch feststellen, dass niemand auf ihr Klopfen antwortete. Dass sie überhaupt kein Geräusch vernehmen konnte, dass von innen nach außen dringt. Sie schob das auf die disziplinierte Atmosphäre, die ein Hort des Lernens mit sich bringt. Unterricht und Konzentration waren in ihren Augen bestimmt der Grund für die Stille.
Iolaynah verschaffte sich selbst Zugang, wenn auch etwas gewaltsam. Kaum im Inneren angekommen, bemerkte sie den modrigen Geruch und den allgegenwärtigen Schimmel. Entweder war das Sanktum schlecht gepflegt oder es gab andere Gründe für den offensichtlichen Verfall. Verwundert stellte Iolaynah ebenfalls fest, dass niemand zu sehen war.

Bis auf den Jungen namens Elden, der allerdings kränklich aussah und ihr sehr misstrauisch begegnete, war niemand zu sehen. Auf die Frage, ob er Iolaynahs Schwester Lorameere kenne, antworte der Knabe Elden urplötzlich mit Panik und Bestürzung. Er forderte Iolaynah auf diesen Ort sofort zu verlassen. Doch der Rektor des Sanktums, Droman Grigso, erschien und hieß Iolaynah willkommen.
Obwohl Rektor Grigso sich alle Mühe gab freundlich zu wirken, hatte Iolaynah längst bemerkt, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Doch sie beschloss das Spiel vorerst mitzuspielen, um herauszufinden, wo ihre Schwester abgeblieben war.
Sie ahnte nicht, dass sie im Begriff war etwas unvorstellbar Grauenvolles aufzudecken. Eine Wahrheit, die sie nicht nur selbst in tödliche Gefahr bringen wird, sondern sie auch mit ihrer eigenen schattenhaften Bestimmung für immer zu verschmelzen droht.
Rezension
Im Blickpunkt dieser Kurzgeschichte steht natürlich die stylische Zunft der Totenbeschwörer. Eingeflochten in eine makaber anmutende Schilderung, zu was die Mitglieder dieser Klasse imstande sind, wird zuweilen auch das empfindliche Gleichgewicht zwischen Leben und Tod berührt. Allerdings übergreifend thematisch von der Autorin im weitaus übertragenen Sinne.
Eben dieser wichtige Aspekt, der den Totenbeschwörern im Grunde als Basis ihrer Künste dient, spielt auch in der Kurzgeschichte eine tragende Rolle. Was Iolaynah herausfindet, lässt den Leser den Atem stocken. Dabei ist es im Ausgang erfrischend, dass es keine Helden gibt in dieser Geschichte, sondern eher Tragik und die unabänderliche Konsequenz, dass manche Dinge einfach nicht geändert werden können.
Die Autorin, eine angesehene Schriftstellerin, die ihre Füße auf mehreren Pedalen hat, versteht ihr Handwerk und konnte mit Sanktum des Gebeins dem Fundus an Kurzgeschichten für Diablo eine beeindruckende Ausgabe beisteuern. Sie nimmt den Leser mit auf die Reise in das Sanktum und enthüllt auf gekonnte Weise Stück für Stück die finstere Wahrheit über das Gemäuer.
Einen Abzug in der B-Note bekommt die verantwortliche Person, welche die Geschichte ins Deutsche übertragen hat. Es tauchen einige Fehler der grammatikalischen Natur auf, die im englischsprachigen Original nicht vorhanden sind. Gemessen daran, dass dies bei den anderen Ausgaben der gesamten Serie nicht der Fall ist, verbleibt durch die Schludrigkeit des Übersetzers ein kleiner Beigeschmack. Ansonsten ist es solide übersetzt.
Fazit
Großartig fügt sich Sanktum des Gebeins in die 4-teilige Serie Legenden aus Sanktuario ein. Bewusst verzichtet die Autorin auf überflüssiges Heldentum und Happy Ends, was dem ganzen Werk einen Hauch an süßer Melancholie verleiht. Erklärte Anhänger der Priesterschaft von Rathma, der Totenbeschwörer-Zunft, werden an dieser Kurzgeschichte ihre helle Freude haben und zum Glück nicht nur diese.
Sanktum des Gebeins

- Autor: Carly Ann West
- Artwork: Asher
- Erscheinungsjahr: 2023